Überprüfbarkeit demokratischer Prozesse (Teil 1)  

von Björn Swierczek

Demokratische Prozesse sollten überprüfbar sein, damit sie vertrauenswürdig sind. Vertrauen kann nur dann dauerhaft entstehen, wenn die Teilnehmer selber die Vorgänge prüfen können. Eine Überprüfbarkeit allein durch eine Autorität kann kein dauerhaftes Vertrauen schaffen. Daher betrachtet dieser Artikel im Detail die Überprüfbarkeit demokratischer Prozesse durch ihre Teilnehmer.

Handzeichenabstimmung

Betrachten wir zuerst welche Möglichkeiten Mitglieder einer grösseren Organisation haben, um eine offene Handzeichenabstimmung auf einer Mitgliederversammlung zu überprüfen.

In der Regel wird zu Beginn der Mitgliederversammlung die Mitgliedseigenschaft der Versammlungsteilnehmer durch Beauftragte mit Hilfe eines Abgleichs des Ausweises des Teilnehmers mit der Mitgliederkartei durchgeführt, die sogenannte Akkreditierung. Dieser Vorgang kann durch die Teilnehmer nur eingeschränkt überprüft werden, da die Beobachtung nur soweit erfolgen kann, wie keine Einsicht in personenbezogene Daten genommen werden kann.

Dennoch können alle Teilnehmer trotzdem Fehler oder Manipulationsversuche bemerken. Als Beispiel seien das unberechtigte Akkreditieren eines ausgeschlossenen Mitglieds oder – z. B. im Falle einer Partei – das unberechtigte Akkreditieren einer Gruppe von “U-Booten“ einer anderen Partei genannt. Hier reicht ein einzelner Teilnehmer, der den oder die unberechtigt Akkreditierten erkennt, um den Fehler bzw. die Manipulation aufzudecken.

Auch die mehrfache Teilnahme durch die gleiche Person kann – selbst bei ungenügender Akkreditierung – ausgeschlossen werden, denn alle Teilnehmer müssen ihre Stimme gleichzeitig persönlich durch Handzeichen abgeben.

Die Handzeichenabstimmung selber kann durch die Teilnehmer vollständig geprüft werden. Während die Handzeichen gegeben werden, können die Teilnehmer sich davon überzeugen, dass nur Akkreditierte ein Handzeichen geben und nicht z. B. Vertreter der Presse. Ebenfalls können sich die Teilnehmer davon überzeugen, dass die Handzeichen richtig ausgezählt werden.

Bei Handzeichenabstimmungen durch die Teilnehmer prüfbar:

Nur berechtigte Personen nehmen teil: eingeschränkt überprüfbar

Jede Person nimmt nur einmal teil: vollständig überprüfbar

Die Stimmen werden korrekt ausgezählt: vollständig überprüfbar

Praktisch alle demokratischen Verfahren der Abstimmung basieren – wie das vorangegangene Beispiel – auf dem Prinzip offener Abstimmungen. Angefangen bei den Bürgern der Stadt Athen im alten Griechenland bis hin zu den Abgeordneten praktisch aller Parlamente demokratischer Staaten ist die offene Abstimmung das bei weitem am häufigsten angewendete Abstimmungsverfahren. Alle sonst verwendeten und überprüfbaren Verfahren, wie z. B. die namentliche Abstimmung, sind – mit einer Ausnahme – nur Spielarten einer solchen Handzeichenabstimmung

Geheime Abstimmung mit Wahlurne

Diese einzige Ausnahme bildet die Wahlurne. Denn diese hat die bereits für Kinder nachvollziehbare Fähigkeit, durch den Einwurfschlitz und ihr nicht-einsehbares Inneres die abgegebene Stimme von der abgebenden Person zu trennen ohne dabei die Überprüfbarkeit der Stimmabgabe zu verlieren. Nur dieser einzigartigen Eigenschaft der Wahlurne ist es zu verdanken, dass überhaupt geheime und gleichzeitig für die Teilnehmer überprüfbare Abstimmungen durchführbar sind.

Betrachten wir analog zur Handzeichenabstimmung wieder anhand einer Mitgliederversammlung einer beliebigen grösseren Organisation wie die Teilnehmer eine Abstimmung per Wahlurne überprüfen können.

Die Akkreditierung selber, also das Feststellen der Mitgliedschaft, läuft identisch zu der im ersten Beispiel betrachteten Hanzeichenabstimmung ab und kann daher ebenso durch die Teilnehmer eingeschränkt überprüft werden. Auch hier reicht, dass einer der Teilnehmer einen Fehler oder eine Manipulation entdeckt, damit diese aufgedeckt werden kann.

Ebenfalls – wie bei der Handzeichenabstimmung – ist es den Teilnehmern auch möglich zu überprüfen, dass jede Person nur einmal an der Urnenabstimmung teilnimmt, denn jeder muss seine Stimme für die anderen sichtbar persönlich in die Wahlurne einwerfen.

Die Teilnehmer können sich davon überzeugen, dass nur akkreditierte Personen einen Stimmzettel einwerfen und nicht z. B. Vertreter der Presse.

Unter der Voraussetzung, dass die Teilnehmer sich vor Beginn der Abstimmung von der leeren Urne überzeugen können, sie die Urne bis zum Beginn der Auszählung beobachten können und sie der Auszählung beiwohnen können, ist es den Teilnehmern möglich, sowohl sicher zu sein, dass von jeder Person nur eine Stimme gezählt wird als auch, dass die Auszählung selber korrekt durchgeführt wird.

Bei Abstimmungen mittels Wahlurnen durch die Teilnehmer prüfbar:

Nur berechtigte Personen nehmen teil: eingeschränkt überprüfbar

Jede Person nimmt nur einmal teil: vollständig überprüfbar

Die Stimmen werden korrekt ausgezählt: vollständig überprüfbar

Dezentrale geheime Abstimmung mit Wahlurne

Als Sonderfall sei noch auf Urnenabstimmungen eingegangen, die dezentral stattfinden. Die Möglichkeit der Teilnehmer zu überprüfen, dass jede Person nur eine Stimme abgibt, leidet im Vergleich zum vorhergehenden Beispiel: Eine Manipulation der Akkreditierung vorrausgesetzt, könnte es versucht werden, in Urnen an verschiedenen Standorten jeweils eine Stimme einzuwerfen. Dies würde den Teilnehmern nicht unbedingt auffallen. Aufgrund der begrenzten Anzahl der Wahllokale überhaupt, aber auch der Entfernung zwischen ihnen und der begrenzten Öffnungszeit ist es für einen Einzelnen jedoch schwierig in nennenswerten Umfang eine Manipulation vorzunehmen. Daher sind für relevante Manipulationen viele Menschen erforderlich, die einerseits dadurch Mitwisser werden und andererseits selber dafür belangt werden können. In manchen Ländern wird z. B. bei Parlamentswahlen bei Einwurf der Stimme eine semipermanente Farbmarkierung an der Person angebracht. Dies kann diese Einschränkung der Überprüfbarkeit weiter entschärfen.

Bei dezentraler Abstimmung mittels Wahlurne durch die Teilnehmer prüfbar:

Nur berechtigte Personen nehmen teil: eingeschränkt überprüfbar

Jede Person nimmt nur einmal teil: weitgehend überprüfbar

Die Stimmen werden korrekt ausgezählt: vollständig überprüfbar

Briefwahl

Als letzte in demokratischen Prozessen eingesetzte Abstimmungsmethode – die jedoch durch die Teilnehmer selber nicht überprüft werden kann – ist die Briefwahl Gegenstand der Betrachtung.

Die Akkreditierung findet auf dem Postwege durch Zusendung eines Wahlscheins an den Teilnehmer durch die zuständige Stelle statt und ist daher für die Teilnehmer nicht überprüfbar. Auch offensichtliche Fehler oder Manipulationen, wie das mehrfache Akkreditieren einer Person können nicht erkannt werden.

Die Teilnehmer senden ihre Stimmzettel mit ihrem Abstimmungswunsch markiert zurück an die zuständige Stelle, die diese sammelt. Dies ist durch die Teilnehmer ebenfalls nicht überprüfbar.

Der letzte Teil des Verfahrens, die Auszählung der Stimmen, kann geprüft werden, zumindest wenn die Teilnehmer dieser beiwohnen können.

Da im Falle der Briefwahl bei der Akkreditierung und der Sammlung der Stimmzettel jedoch ohnehin vollständig auf die zuständige Stelle vertraut werden muss, ist es aus Sicht der Überprüfbarkeit des Verfahrens praktisch kein Unterschied, ob die Auszählung selber überprüfbar ist. Denn im Falle einer Manipulation würden lediglich manipulierte Stimmzettel “korrekt“ ausgezählt. Eine offene Auszählung verleiht dem ganzen Verfahren der Briefwahl den trügerischen Schein vermeintlicher Überprüfbarkeit, den es in Gänze jedoch – wie gezeigt wurde – gar nicht bieten kann. In vielen Fällen wird daher konsequenterweise auch gleich darauf verzichtet, eine offene Auszählung durchzuführen.

Bei Briefwahl durch die Teilnehmer prüfbar:

Nur berechtigte Personen nehmen teil: nicht überprüfbar

Jede Person nimmt nur einmal teil: nicht überprüfbar

Die Stimmen werden korrekt ausgezählt: vollständig überprüfbar

Nach der Betrachtung praktisch aller bisher relevanten demokratischen Abstimmungsformen beschäftigt sich der zweite Teil des Artikels mit elektronischen Abstimmungen, wie sie beispielsweise auch in LiquidFeedback stattfinden, und insbesondere deren Überprüfbarkeit durch die Teilnehmer.

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